This is not a race. So möchte der Veranstalter das Seven Serpents Quick Bite 2023 dargestellt wissen und betont es sicherheitshalber gleich mehrfach. Während des Briefings kostet mich diese Aussage maximal ein müdes Lächeln. Am Ende desselben Tages ist von diesem Lächeln nichts mehr übrig – außer vielleicht: Grenzenlose Müdigkeit. Gepaart mit einer ganzen Menge Verzweiflung und der schmerzhaften Erkenntnis: This is not a race.

Samstag
Die Wochen vor dem „Rennen“ verlaufen alles andere als geplant. Arbeit, Universität und eine zähe Covid-Infektion in der Woche vor dem Event führen zu dem ernüchternden Resultat: Trainingskilometer im vergangenen Monat? Null. Bis kurz vor dem Start war nicht klar, ob eine Teilnahme überhaupt möglich, geschweige denn sinnvoll ist. Erst die Selbstlosigkeit von Michis Vater sollte das Zünglein an der Waage darstellen, indem er anbot, uns im Bedarfsfall jederzeit und überall mit dem Auto abzuholen. Dem „Season Opener“ sollte damit nichts mehr im Wege stehen.
Glücklich würde ich deshalb meinen Zustand an der Startlinie beschreiben, als Adrenalin und Dopamin den wahren Fitnesszustand meines Körpers erfolgreich übertünchen. Im Rausch der Endorphine gestaltet sich der erste kurze Anstieg noch spielerisch. Die Gegend rund um Ljubljana weiß zu überzeugen – trotz der Tatsache, dass in derselben Gegend vor zwei Wochen eine Bärenattacke gemeldet wurde. Die Wahrscheinlichkeit, dass sich ein Bär unter all den vorbeiradelnden Häppchen gerade mich aussucht, erscheint mir dann aber doch als zu gering.

Erste Zweifel bzgl. der Sinnhaftigkeit des gesamten Unterfangens kommen mir bereits nach 35 Kilometern. Über 600hm liegen zu diesem Zeitpunkt in meinem Rücken und trotz hervorragender Schotterstraßen gestaltet sich das Pedalieren anstrengender als erwartet. Das Systemgewicht von rund 16kg macht sich erstmals negativ bemerkbar. Mein Versuch, die Pumpe nie auf Anschlag laufen zu lassen, lässt sich nur schwer umsetzen.
Begegnungen mit anderen Teilnehmer:innen lassen die darauffolgenden Kilometer zumindest unterhaltsamer und kurzweiliger erscheinen. Innere Unruhe verunmöglichte mir jedoch, die Highlights der Strecke genießen zu können. Ein toller Ausblick hier, ein schönes Kloster dort. Alles egal. Keine Zeit. Stets sehe ich meinen Zeitplan – und ja, den habe ich zu diesem Zeitpunkt noch – in Gefahr.
Nach 105km erreiche ich Postojna (Adelsberg). Dieser Ort ist wesentlich, um sich für den Rest des Tages mit Essen und Trinken zu versorgen. Die nächste Möglichkeit hierfür sollte erst in rund 40km folgen. In Anbetracht einer prognostizierten Fahrzeit von vier Stunden und einer Ankunft um knapp vor Mitternacht scheidet diese Option allerdings aus und so geht es mit Pizza und Eistee im Gepäck hoch zum ersten Checkpoint: Sveta Trojica.

Mit jedem gewonnen Höhenmeter verliere ich aber zeitgleich eine ganze Menge Lebensfreude. Rücken und Nacken bereiten grobe Probleme; die Beine fühlen sich leer an; Dunkelheit legt sich langsam über die slowenischen Wälder und die Aussicht, dass das Gros der Strecke noch vor mir liegt, tut ihr Übriges. Vor der ersten Hike-a-bike-Passage verliere ich daher jegliche Zuversicht und falle in ein ziemlich tiefes Loch voller Verzweiflung. Mir ist schlichtweg zum Heulen. So habe ich mir das Seven Serpents Quick Bite definitiv nicht vorgestellt.
Verärgert über den verlorenen Trainingsmonat – inklusive der nun deutlich spürbaren Konsequenzen – und verzweifelt über die Aussichtslosigkeit der gegebenen Situation liege ich nun regungslos am Boden, starre in den Abendhimmel und tue erstmal: nichts. Diesen Zustand weiß ich auch für einige Minuten nicht aufzuheben. Auf die Frage einer Teilnehmerin ob alles in Ordnung sei, kann ich nichts erwidern. Sie zieht weiter. Ich bleibe am Boden.

Retrospektiv betrachtet, sollten sich diese Minuten als Meilenstein für die kommenden Tage erweisen. Unbewusst dürfte sich nämlich eine gesunde Form der Resignation eingestellt haben und diese schiere Hoffnungslosigkeit ließ mich offensichtlich Erwartungsmanagement in seiner radikalsten Form betreiben. Als ich endlich wieder aufs Fahrrad steige, kann ich noch nicht ahnen, dass es ab jetzt nur noch besser werden wird.
Wesentlichen Anteil daran haben vermutlich die zahlreichen Begegnungen mit den anderen Teilnehmer:innen. Bereits wenige Kilometer nach meinem „Breakdown“ stoße ich auf den Slowenen Kristjan. Auch für ihn ist es die erste Teilnahme an einem Ultra-Distance-Gravel-Race. Im Gegensatz zu mir ist Kristjan aber mental wesentlich stärker. 13 Jahre Militär hinterlassen offensichtlich Spuren und das färbt glücklicherweise auch auf mich ab. Sowohl die Hike-a-bike-Passagen als auch die nächtliche Abfahrt wird durch sein Beisein und seine stoische Ruhe um ein Vielfaches erträglicher für mich. Riesengroß ist daher meine Freude, nach 143km endlich in Cerknica (Zirknitz) anzukommen.

Noch größer wird sie, als uns Kristjan mithilfe seiner Sprachkenntnisse einen überdurchschnittlich luxuriösen Schlafplatz organisieren kann. Die Besitzerin einer Bar erweist sich nämlich als die Präsidentin des örtlichen Jugendheims und stellt uns die Räumlichkeiten desselben für die Nacht zur Verfügung. Fließend Wasser, Toiletten, ausreichend Steckdosen, ein Dach über dem Kopf und ein Radiator (!) sind damit unser. Einer geruhsamen Nacht sollte daher wenig im Wege stehen – die Betonung liegt dabei auf dem Wörtchen sollte. In Wahrheit hat nämlich niemand von uns ein Auge zugetan. Zu vielfältig, umfangreich und überwältigend gestalten sich die Sinneseindrücke des vergangenen Tages.
Sonntag
Die gesamte Nacht von links nach rechts wälzend – und wieder retour – wird die Nachtruhe um 05:00 Uhr für beendet erklärt und Kristjan und ich schwingen uns auf unsere Räder. Es folgt: einer der schönsten Momente unserer Reise. Den Cerkniško jezero (Zirknitzer See) bei Sonnenaufgang entlang zu fahren ist einfach unbeschreiblich. Besser kann ein Tag kaum starten. Wenige Kilometer nach dem See folgt auch schon das nächste Highlight: Grad Snežnik (Schloss Schneeberg).
Die Freude darüber währt nur kurz, denn von hier aus starten wir direkt in einen Anstieg mit über 700hm. Außerdem in jenes Gebiet, vor dem im Briefing ausdrücklich „gewarnt“ wurde. There are small animals, medium animals and large animals. If you decide to ride this section through the night, you should know what you’re doin‘.

Der Kontakt mit Bären scheint auf den folgenden Kilometern nicht allzu selten zu sein und wie sich später herausstellen sollte, dürfen auch einige Teilnehmer:innen des Seven Serpents Quick Bite in den Genuss davon kommen. Wir bleiben jedenfalls verschont und werden am höchsten Punkt des Anstiegs von einem überaus freundlichen Hüttenbesitzer mit wertvollem Trinkwasser und noch viel wertvolleren Informationen zum konfliktfreien Umgang mit Bären versorgt.
„Aufgeklärt“ setzen wir unseren Fuß (oder besser gesagt: unser Rad) über die slowenisch-kroatische Grenze und stellen ernüchtert fest: Smooth Gravel? Gut aber aus. Sanfte Schotterpisten mutieren hier zu Ungetieren aus Geröll. Die Abfahrten: Technisch erheblich anspruchsvoller. Die Anstiege: Teilweise unfahrbar. 30 Kilometer trennen uns noch von der Brücke auf die Insel Krk, doch diese Kilometer haben es in sich. Hike-a-bike wird zum Motto des Tages und retrospektiv wird dieser Abschnitt der unerfreulichste Teil der gesamten Tour. Selbst die Abfahrt nach Križišće ist trotz einer sagenhaften Kulisse ein wahr gewordener Alptraum. Auf einer Länge von vier Kilometern lernt man, wie sich Aquaplaning anfühlt. Die 45mm breiten Reifen schwimmen kaum kontrollierbar in einem Meer aus Schotter umher. Spaß fühlt sich anders an.

Umso glücklicher bin ich, als ich endlich auf Krk ankomme – und bei einem Pizza-Stop auf Arnaud, Christian und Markus treffe. Nach kurzer Bedenkzeit einigen wir uns darauf, uns heute Nacht ein Apartment zu teilen. Das Bedürfnis zu duschen ist einfach viel zu groß. Im wundervollen Hafenort Čižići werden wir fündig und genießen bei einem Bier, wie sich die Lichter der Stadt im Meer spiegeln. Hier ist alles gut. Frisch geduscht steht mir eine erholsame Nacht bevor – bis mich um 05:00 härtester Techno aus den süßen Träumen reißt.

Montag
Während ich üblicherweise gerne sanft und entspannt in den Tag gleite, scheint mein Zimmergenosse Markus Gegenteiliges zu präferieren. Vom gröbsten Schock des Tages erholt, geht es für mich und meine vier Begleiter um 06:30 Uhr los. Auch heute lässt sich der Tag wieder hervorragend an, denn im Sonnenaufgang die Küste entlang zu radeln hat definitiv seinen Reiz. Generell sollte sich die Insel Krk zu meinem persönlichen Highlight des Seven Serpents Quick Bite entwickeln. Einen maßgeblichen – wenn auch unbeabsichtigten – Anteil daran hat mit Sicherheit mein obig erwähnter Zimmerkollege Markus.

Sein Reifen ist es, der uns vormittags Zeit kostet. Die bereits beschädigte Karkasse seines Hinterrades gibt erneut den Geist auf und muss mithilfe zweier Gelpackungen zumindest soweit fahrtüchtig gemacht werden, dass wir es bis zum nächsten Fahrradgeschäft schaffen. Überraschenderweise hält die notdürftige Konstruktion und wir erreichen das Hafenstädtchen Krk ohne weitere Zwischenfälle. Die Zeit während Markus seinen neuen Tubeless-Mantel aufzieht, wissen wir kulinarisch zu nutzen und landen in einer Pizzeria direkt am Meer. Spätestens jetzt ist jeder innerliche Zeitdruck aus mir entwichen und es gelingt, die Annehmlichkeiten dieses „Rennens“ immer stärker zu genießen.

Krk lassen wir noch vor der Mittagszeit hinter uns und starten auf die nächste Insel: Cres. Mit ihr verbinde ich nur Höhenmeter. Auf 40km sammeln sich über 900 davon. Bei über 31°C und Windstille brüten wir in der Sonne. Angenehm ist das nicht – aber absehbar. Als wir im zweiten Hafen ankommen, steht fest, dass wir es noch vor Anbruch der Dunkelheit aufs Festland und somit nach Lovran schaffen werden. Voller Übereifer denke ich sogar darüber nach, heute noch den letzten großen Anstieg des Seven Serpents Quick Bite in Angriff zu nehmen, den Učka.

Die ersten Kurbelumdrehungen nach dem Verlassen der Fähre holen mich aber rasch auf den Boden der Realität zurück. Ein unnatürlich hoher Puls lässt mich schnell nervös werden. Habe ich es übertrieben? War die Anstrengung schlichtweg zu hoch für jemanden, der erst vor zwei Tagen seinen Genesungsbescheid erhalten hat? Trotz meiner Bemühungen mich nicht zu verausgaben, hatte ich nun Panik, an dieser Stelle abbrechen zu müssen. So langsam wie möglich, versuche ich daher den Anstieg nach Sveta Jelena hinter mich zu bringen. Mit dem Vorsatz, pedantisch auf die Signale meines Körpers während des Rennens zu achten, wird klar: mein Körper braucht Ruhe. An ein Weiterfahren ist für mich nicht zu denken. Die neue Endstation des Tages lautet daher: Lovran.

Während ich abfahre, fällt mir nicht auf, dass ich Kristjan, Christian, Markus und Arnaud hinter mir lasse. Erst in Lovran entdecke ich am GPS-Tracker, dass sie offensichtlich irgendwo entlang der Strecke einen Zwischenstopp eingelegt haben. Meine Pläne, mit ihnen gemeinsam ins Ziel zu radeln, lösen sich daher vor dem Parkhotel in Luft auf und unglücklicherweise werden wir uns auch danach nicht mehr wiedersehen.
Ein neuer Plan muss demnach her. Von Glück könnte man daher sprechen, dass mir just in diesem Moment Michael schreibt. Nach zwei harten Nächten im Schlafsack möchte er sich heute ein Apartment in Lovran gönnen. Ich bin herzlich eingeladen ebenfalls dort zu nächtigen. Dieses Angebot kann ich kaum ausschlagen und so geht es nach einem kurzen Abstecher zum Supermarkt direkt zu ihm.

Dort angekommen, treffe ich eine Person an, die sich mit Sicherheit schon besserer Tage erfreuen durfte. Etwas geknickt und sichtlich erschöpft, kann Michael der Teilnahme am Seven Serpents Quick Bite zu diesem Zeitpunkt nur wenig Gutes abgewinnen. Umso erfreulicher erscheint die Aussicht, zumindest den letzten Tag des Rennens gemeinsam fahren zu dürfen. Die überdurchschnittlich frühe Nachtruhe (es ist erst 19:00 Uhr) motiviert uns zu einem besonders frühen Start. Um kurz vor 04:00 Uhr brechen wir daher auf und begeben uns direkt in den längsten Anstieg der gesamten Tour. 1000hm wollen direkt zum Frühstück verspeist werden!

Dienstag
Was köstlich klingt, offenbart sich als eher zähe Prozedur. Nach wenigen Kilometern endet der Asphalt und ab da geht es immer regelmäßiger schiebend den Berg empor. Mit jeder Hike-a-bike-Passage sinkt die Motivation und es wird Zeit für jene Playlist, die ich mir exakt für diesen Moment zurechtgelegt habe. Als Treibstoff für jenen Augenblick, in dem sich die Freude am Radfahren – oder Radwandern – dem Ende zuneigen sollte, habe ich mir Fred Again auserkoren. Die Klänge versetzen mich in Ekstase und während ich gemeinsam mit Fred laut please make it better in Richtung Triest rufe, merke ich, wie sich Michael langsam zurückfallen lässt. Er scheint kein Freund lauter und zeitgleich unmelodischer Stimmen zu sein und so sehen wir uns erst am Gipfel wieder.

Hoch oben am Berg gibt es keine Zeit zum Feiern. Wind, Regen und Temperaturen im unteren einstelligen Bereich machen den Aufenthalt ausgesprochen ungemütlich und veranlassen uns zu einer rasanten Abfahrt. Mit erstaunlich wenig Grip kommt es dann auch noch zum Beinahe-Unfall. Glücklicherweise entsteige ich dem Straßengraben nur mit einem Schrecken. Ab hier nehme ich Tempo raus, Sicherheit geht vor, zeitgleich verbessert sich allerdings auch wieder das Wetter.
Die letzten Anstiege in Richtung Triest sind teilweise etwas knackig, nach den vorangegangenen Strapazen aber kaum der Rede wert. Hier finde ich wieder, was ich kurz nach der Startlinie verloren habe: mein müdes Lächeln. Spätestens vierzig Kilometer vor Schluss wird mir klar: Dieses Finish kann mir keiner mehr nehmen. Mit unheimlich viel Stolz und Vorfreude rumpeln Michi und ich die ehemalige Bahntrasse nach Triest hinunter. Eine geschmeidige Zieleinfahrt sieht anders aus. Anstrengend bleibt es damit bis zum letzten Kilometer. Spannend auch.

Glücklich, auf den letzten Metern nicht dem berüchtigten italienischen Großstadtverkehr zum Opfer zu fallen, rollen wir gemeinsam ein, auf die Piazza Unità d’Italia. Beim Versuch einer originellen Finisher-Pose verreißt es mir beinahe nochmal den Lenker. Ins Ziel schlittern kann auch nicht jeder, denke ich mir. Kraftlos wie ich bin, wäre ich aber auch damit zufrieden gewesen – Hauptsache: im Ziel.
Erwartet werden wir hier von Bruno (dem Organisator), unserem Teamkollegen, Mitstreiter und Freund Thomas sowie von Michis Vater. Bei herrlichem Wetter dürfen wir uns in die Arme fallen und unseren Triumph genießen. Meinen bereits gebuchten Zug (zurück nach Wien) habe ich zwar um eine Stunde verpasst, um meinen Zeitplan habe ich mir zu diesem Zeitpunkt allerdings schon längst keine Gedanken mehr gemacht – und so gab es nichts schöneres für mich, als die erste gesunde Mahlzeit seit Tagen zu bestellen. Bei Salat und Bier tauschten wir dann unsere Geschichten aus und oftmals musste ich dabei an Brunos erste Worte denken: This is not a race.

Update
Das Seven Serpents Quick Bite liegt nun einige Wochen zurück – Zeit genug, um das Erlebte aufzuarbeiten. Diese Zeit wurde auch von anderen Teilnehmern genutzt und das möchte ich euch nicht vorenthalten. Wer zusätzliche Informationen benötigt, darf sich also gerne mit Ihnen auf die Reise begeben. Viel Spaß dabei!
- Michael Windisch – Wo die Bären leise weinen.
- Sitzfleisch – Florian Kraschitzer beim Seven Serpents Quickbite (Podcast)
- Der Standard – Die sieben Lektionen der Seven Serpents
Autor: Lukas